Eine Dekade in 30 Songs zu fassen, das
ist ein Ding der Unmöglichkeit. 30 Alben wären bereits deutlich zu
wenig, um der Aufgabe auch nur ansatzweise gerecht zu werden. Da wir
aber an unseren Aufgaben wachsen, hier im Folgenden nun 30 Songs, 3
pro Jahr, die mir seit Langem sehr wichtig sind – innerhalb des
Jahrgangs alphabetisch sortiert, ich will diese 30 Titel nicht auch
noch in ein Ranking bringen. In den Neunzigern fing ich an, Musik für
mich zu entdecken, habe mich in den Klang von elektrischen Gitarren
verliebt, habe angefangen, diverse Stilrichtungen zu entdecken, habe
angefangen, meinen ganz persönlichen Geschmack zu entwickeln.
1990.1 – Böhse Onkelz – Nekrophil
Dass meine Liste ausgerechnet mit
dieser Band beginnt, liegt schlicht und einfach daran, dass für mich
die Neunziger ohne diese Band nicht denkbar gewesen wären. Von allen
Alben der Band ist die „Es ist soweit...“ wohl diejenige, die dem
Heavy Metal am nächsten kommt. Zum Song: das gelungene Introriff,
der unendliche fiese, dreckige Gesang, dazu die morbide Thematik, all
das hat auf mich in den Neunzigern äußerst faszinierend und
fesselnd gewirkt. Ohne die Frankfurter wäre ich nie beim Heavy Metal
gelandet.
1990.2 – Gamma Ray – Heading For
Tomorrow
Egal, wie sehr sie sich auf den letzten
Alben bei sich selbst bedienen, egal, dass seit Langem kreative
Stagnation angesagt ist: in den vermeintlich metalschwachen 90ern
(was für ein Blödsinn!) waren die Jungs eine der führenden
deutschen Formationen – zu Recht. Hansen hat mit seinem ersten
Album nach dem Helloween-Ausstieg an das Niveau der beiden
Keeper-Scheiben mindestens anknüpfen können, und mit dem damaligen
Sänger Ralf Scheepers zum zweiten mal nach Kiske einen gnadenlosen
Volltreffer gelandet. Der Titelsong des ersten Albums ist nicht
weniger als der perfekteste Melodic-Metal-Longtrack aller Zeiten, zu
jeder Minute spannend und nie langweilig werdend. Besser kann man
diese Art Musik nicht spielen.
1990.3 – Judas Priest – Painkiller
Keine Liste von mir ohne einen Titel
der größten und mächtigsten Band aller Zeiten. Über den Song und
das Album muss man – denke ich – keine Worte mehr verlieren.
Painkiller war stilprägend, ein unerwartet harter Befreiungsschlag,
und Halford liefert eine unmenschliche Gesangsleistung ab. Nebenbei
natürlich das geilste Drumintro aller Zeiten.
1991.1 – Cirith Ungol – Fallen
Idols
Vier perfekte Alben in 10 Jahren, dann
Schluss, aus und vorbei. Eine der eigenständigsten Bands aller
Zeiten, gesegnet mit einem Frontmann, der direkt aus der Hölle
kommen musste. Ich verstehe bis heute nicht, weshalb das letzte Album
aus dem Jahr 1991 häufig als den Vorgängern nicht ebenbürtig
empfunden wird. Die Band hat es geschafft, in ihren ureigenen Sound
noch eine ungeheuerliche Eingängigkeit mit einzubringen, und hat
schlichtweg ein paar verdammt starke Hits geschrieben – wie das
getragene Fallen Idols mit seinem großartigen Hauptriff und dem
Megarefrain – grandioser Schwanengesang.
1991.2 – Iced Earth – Pure Evil
Jon Schaffer hat es auf den ersten drei
Studoalben geschafft, gnadenloses Riffgeschiebe und extrem variables
Songwriting zu verzahnen, wie es höchstens noch Metallica auf ihren
ersten drei Scheiben konnten – wobei Iced Earth ein Quäntchen
düsterer, böser und härter waren. Dass Schaffer anschließend
immer mehr zu simplen, kommerzielleren Songs überging, störte mich
nicht, ich mag ausnahmslos alle Bandphasen. Dennoch ist das
Stormrider-Album ein Meilenstein der frühen Neunziger. Pure Evil ist
mein persönlicher Höhepunkt auf dem Album, variables Drumming, die
wohl besten Rhythmusgitarren, die Schaffer jemals aufgenommen hat und
tolle Screams im Refrain.
1991.3 – Savatage – Tonight He
Grins Again
Bei allem Respekt für die starken
80er-Alben der Band, aber im hier besprochenen Jahrzehnt hat die Band
meine beiden liebsten Alben ihrer Laufbahn veröffentlicht. Streets
von 1991 ist eines der absolut besten Konzeptalben, die ich kenne.
Kernige Riffs, tolle Soloarbeit, und über allem die einzigartige
Stimme von Jon Oliva. Welchen Song man sich auch aussucht, das Album
besteht nur aus Höhepunkten. Tonight He Grins Again ist die perfekte
Kombination aus Bombastrock und irrsinnigem Gesang, großartig. Das
andere Lieblingsalbum ist übrigens The Wake Of Magellan, aber davon
hat es nichts auf die Liste geschafft.
1992.1 – Killers – The Beast Arises
Paul Di'Anno war mir von den drei
Maidensängern immer am liebsten. Sein 92er Soloalbum liegt mir
besonders am Herz. The Beast Arises - ich liebe diesen druckvollen,
schmutzigen Gesang (ja, ich bin sehr Sängerfixiert), musikalisch
schnörkellos und – erstaunlicherweise – priestlastig.
1992.2 – Manowar - Burning
Zu Hälfte neu besetzt und am
stilistischen Scheideweg, trotzdem liefern Manowar einen der größten
Songs des Jahres ab. Wenn nach der doomig daher galoppierenden ersten
Strophe der mächtige Refrain einsetzt, und wenn Adams diesen noch
mit seinen unglaublichen Schreien krönt, kann ich nicht anders, als
mitzugehen.
1992.3 – W.A.S.P. - Chainsaw Charly
(Murders In The Rue Morgue)
Akustisches Intro, dann flott die
Kettensäge angeworfen, und los geht’s. Es ist klasse, wie wenig
kopflastig dieses Konzeptalbum an sich und dieser Longtrack im
speziellen ist. Blacky schafft es immer wieder, schmissige,
glamrockige Melodien in den Raum zu werfen, für die andere
Songwriter töten würden. Andere Bands basteln drei oder vier
Refrains aus dem, was hier abgeliefert wird.
1993.1 – Meat Loaf – Everything
Louder Than Everything Else
Überfrachtet mit Bombast, mehr Musical
als Rocksong, kitschig theatralischer Gesang, glatter Sound. Ich weiß
selbst, dass das weder Metal noch kerniger Rock ist. Es kommt auch
nicht jeden Tag vor, dass ich Meat Loaf auflege, aber hey, wir reden
von den Neunzigern, man erlaube mir eine kitschige Stelle :-).
Positive Rock'nRoll-Vibes, instrumental toll inszeniert, ich mag das
wirklich.
1993.2 – Rage – Firestorm
Zurück nach Deutschland, zurück zum
schnörkellosen Metal. Vollgas, mit geilem Riff direkt in die Fresse,
eingängiger Refrain, gesanglich charmant, aber nicht überragend.
Firestorm ist für mich exemplarisch für das, was Rage in den frühen
Neunzigern ausgemacht hat. Manni Schmidt kann man nicht genug loben,
es gibt wenige Gitarristen, die dermaßen fit sind, aber immer dem
Song dienlich bleiben. Riffen und Solieren kann der wie kaum ein
zweiter in Deutschland.
1993.3 – Rush – Stick It Out
Kein Jahrzehnt ohne Rush. Der Weg
zurück zu dominanteren Gitarren gefiel mir sehr. Man höre sich nur
das Riff von Stick It Out an. Knackig, nicht im Geringsten
angestaubt. Das Drumming sehr akzentuiert, der Refrain sehr
eigenwillig. Rush schaffen es wie kaum jemand sonst, technisch
brillant (was für eine Bassarbeit!) und komplex zu sein, ohne den
Hörer auch nur eine Sekunde zu überfordern oder mit Fragezeichen
vor den Augen zurückzulassen.
1994.1 – Dr. Butcher – The Altar
Schon wieder Jon Oliva? Mir doch egal!
So hart wie Dr. Butcher waren Savatage nie, allein der völlige
kranke Schrei ab Sekunde 50 stellt mir alle Haare auf. Kein Gedöns,
kein Bombast, keine Orchestrierungen, nur mächtige Gitarren, eine
pumpende Rhythmusgruppe, ganz dezente Keyboardflächen im
Hintergrund, und die beste Performance von Oliva aller Zeiten.
1994.2 – Running Wild – The
Privateer
Running Wild haben bei mir nicht den
Stellenwerk inne, den beispielsweise Rage oder Grave Digger inne
haben. Vielleicht, weil ich zu spät auf die Band aufmerksam wurde,
und die Formkurve da bereits merklich nach unten zeigte. Aber ein
Album – Black Hand Inn von 1994 – kommt immer wieder in den
Player. Die Single Privateer vereint wirklich alles, was das Album so
groß macht. Dauersperrfeuer des getriggerten Schlagzeugs, die
schnellen Gitarrenläufe von Rolf, dezent folkloristisch klingende
Gitarrenmelodien, ein großer Refrain. Toll.
1994.3 – Tiamat – A Pocket Sized
Sun
Ex-Death-Metaller wirft alle harschen
Töne über Bord und nimmt mit A Pocket Sized Sun einen der schönsten
und berührendsten Song aller Zeiten auf. Klar inspiriert von Pink
Floyd und den getragenen Momenten von King Crimson, aber weit weg
davon, ein Rip-Off zu sein. Das ist eine Komposition für eine laue
Sommernacht, wenn man Nachts um zwei nicht schlafen kann und alleine
spazieren geht.
1995.1 – Blind Guardian –
Imaginations From The Other Side
Der Song, der in knapp über sieben
Minuten all das vereint, das die Band so groß gemacht hat: harte,
gerne mal speedige Rhythmusgitarren, sehr variable Schlagzeugarbeit,
sehr eigenständige Melodieführung, und natürlich Orchestrierungen
und große, opulente Chöre. Damals noch sehr ausgewogen eingesetzt,
ohne die Metalbasis der Songs zu verdrängen. Das war später
bekanntlich anders (ich steh' auch auf die neueren Alben). Für mich
ist IFTOS fast so etwas wie eine letzte Zusammenfassung der eigenen
Trademarks, bevor sich die Band auf zu neuen Ufern machte.
1995.2 – Dream Theater – A Change
Of Seasons
Befreit von dem Zwang, in den Kontext
eines Albums passen zu müssen, ist A Change Of Seasons für mich
nicht weniger, als der beste Longtrack dieser begnadeten Band.
Irrsinnige Instrumentalabfahrten, enorm anspruchsvolle
Rhythmusarbeit, gnadenlos komplexe Gitarrenparts, und trotzdem
tauchen in den 23 Minuten immer wieder warme Gitarrensolos,
Gesangslinien oder akustische Parts auf. Mir ist bewusst, dass man
den Song – um ihn auch nur ansatzweise zu erfassen – 10, 15 oder
20 mal hören muss. Aber selten hat sich das so gelohnt wie hier.
1995.3 – Rammstein – Wollt Ihr Das
Bett In Flammen Sehen
Weg von der Musikkunst, hin zu
steriler, martialischer Konstruktion. Wir waren halbstarke
Vierzehnjährige, als dieser Sound aufgeschlagen hat. Und was war
hart, unglaublich hart. Man muss die Band nicht mögen, niemand kann
aber abstreiten, dass dieser Sound im Mainstream Mitte der Neunziger
etwas ganz neues war und die Band unzählige Massen an Nachahmern
inspiriert hat. Auch heute, wenn ich diesen ganz eigenen, klinischen
Gitarrensound höre, nimmt es mich noch mit.
1996.1 – Böhse Onkelz – Auf Gute
Freunde
Ja, wer mir bis hierher gefolgt ist,
wird womöglich die Augen verdrehen. Aber keine Sorge, die beiden
anderen Songs des Jahres 1996 sind mindestens genau so plakativ ;-).
Aber zurück zu „Auf Gute Freunde“. Ein schmeichelnder Rocker,
Straßenkötergesang, gute Gitarren, reflektierender Text ohne
Pathoskeule, besser kann man – Achtung, ducken – Deutschrock
nicht machen.
1996.2 – Grave Digger – In The Dark
Of The Sun
Keine Ahnung, warum diese Band so oft
belächelt wird. Weil die Jungs einfach strukturierte Songs komplexen
Kompositionen vorziehen? Weil Boltendahl alles andere als ein
stimmlicher Schöngeist ist? Aber auf Accept steil gehen, hm? Grave
Digger haben dermaßen viele Metalhymnen geschrieben, wie kaum eine
andere Band. In The Dark Of The Sun lebt von einem einfachen Riff und
einem großen Refrain. Manchmal reicht genau das aus.
1996.3 – Manowar – The Power
Das war nicht mehr die selbe Band,
musikalisch hatte man sich von der ausladenden Epik der
Ross-The-Boss-Phase verabschiedet, Logan spielte wesentlich
reduzierter, ein Schlagzeuger durfte das Studio auch nicht betreten.
Trotzdem liefert der Song das, was er verspricht – Kraft vom Fass.
Faust hoch, Anlage laut, und dem überragenden Gesang von Eric Adams
lauschen.
1997.1 – Jag Panzer – Black
Dunkler Beginn, dramatische Steigerung,
grandioses Mainriff, voluminöser Weltklassegesang, garniert von
wirklichen tollen Gitarrensoli. Was soll man mehr über einen der
besten Jag Panzer-Songs aller Zeiten sagen?
1997.2 – Judas Priest – Cathedral
Spires
Auch Judas Priest müssen eine zweite
Nennung bekommen. Schließlich hatten bei den Birminghamern in diesem
Jahrzeht die beiden besten Metalsänger aller Zeiten das Mikro in der
Hand. Und die neue Härte im Gitarrenbereich tat der Band gut. Wenn
nach zwei klaren, melodischen Minuten die Stimme erhoben wird und
sich die Nummer mit einem Monsterriff hin zu einem der besten und
epischsten Refrains der gesamten Bandgeschichte steigert, dann geht
mir das Herz auf. Gnadenlos gut.
1997.3 – Stratovarius – Visions
(Southern Cross)
Keine 90er-Show ohne Stratovarius. In
meiner kleinen Welt war das damals die absolute Speerspitze des
europäischen Metal. Instrumental wesentlich versierter als ähnlich
gelagerte Bands wie Helloween oder Gamma Ray – alleine schon die
Keys von Jens Johansson waren der Konkurrenz weit voraus. In dieser
ausladenden 10 Minuten Nummer geht die Band keineswegs zu gemächlich
oder übertrieben orchestral zu Werke (wie sie es beispielsweise auf
den zu süßlichen Elements-Alben getan hat). Die ersten vier Minuten
regiert die Doublebass, bevor ein akustisches Intermezzo Ruhe bringt,
in ein tolles Solo überleitet, das wiederum den Weg für das von
dezenten Chören unterstütze Finale ebnet.
1998.1 – Arena – The Hanging Tree
Düster und zu tiefst melancholisch,
dabei äußerst zart. So beginnt der unstrittig beste Titel des
gesamten Arena-Schaffens. Bereits die zerbrechliche Gesangszeile
„Moving deeper into the land“ wird man seines Zeit seines Lebens
nie mehr aus dem Gehirn bekommen. Als dann die Fragilität harscheren
Tönen weicht – ohne das dunkle Element zu verlieren – zeigen
Gesang und Sologitarre, wie emotional Musik sein kann. Wundervoll.
1998.2 – Ayreon – The Two Gates
Schon wieder ein Auszug aus einem
Konzeptalbum. Warme, analoge Synthesizer zu Beginn, eine fette,
groovende Hammondorgel mit einem rockigen, stampfigen Riff, gnadenlos
gute Sänger mit genug Spielraum in der Komposition, um die
jeweiligen Stärken zu zeigen. Gekrönt wird diese Nummer von einem
richtig großen Refrain. Nichts wirkt hier kopflastig oder
konstruiert, alles organisch.
1998.3 – Threshold - Angel
Threshold, das heißt bislang 10
Studioalben ohne Ausfall, das kann kaum jemand sonst vorweisen. Das
Album „Clone“ aus dem Jahr 1998 war das erste mit dem leider viel
zu früh verstorbenen Andrew McDermott. Meiner Meinung nach der
Sänger, der mit seiner vollen, rauen Stimme am besten zur Band
passte. „Angel“ hat alles, vom tollen Orgelintro über harte
Riffs, beeindruckende Schlagzeugarbeit, einen harten Mittelpart und
einen einfach nur schönen Refrain.
1999.1 – Dark At Dawn – Within The
Light
In einer gerechten Welt wären Dark At
Dawn groß geworden. Schnelle, leicht an Maiden erinnernde
Gitarrenläufe, einzigartiger Reibeisengesang und ein Gespür für
tolle Vocallines. „Within The Light“ ist ein knackiger,
authentischer Underground-Metal-Song. Ohne jeden Schnörkel. Wer
sowas nicht mag, muss ein böser Mensch sein :-).
1999.2 – Mercyful Fate – Church Of
Saint Anne
Einer meiner liebsten M.F.-Songs. Über
ein schleppendes Riff packt der Diamantenkönig seine eigenwilligen
Gesangslinien und Harmoniegesänge. Der Song ist verschachtelt, ohne
sperrig zu sein (ja, zugegebenermaßen immer noch easy listening im
Vergleich zum Frühwerk), und der Refrain ist toll.
1999.3 – Misfits – The Forbidden
Zone
Vom einen Extrem (Dream Theater mit 23
Minuten) zum Anderen. Die Misfits brauchen nur zwei Minuten und
vierundzwanzig Sekunden, um mich zum rasen zu bringen. Punkige
Gitarren, flottes Tempo, starke Vocals mit leichtem
Rock'a'Billy-Touch, und Melodien, die sofort ins Ohre gehen. Ich habe
das Album damals, 1999, rauf- und runtergehört, und stehe heute noch
voll drauf.
Soviel zur unlösbaren Aufgabe, eine
Dekade in 30 Songs zu fassen. So unlösbar die Aufgabe auch ist, mein
Sonntag war ein sehr Gelungener.