Sonntag, 8. Februar 2015

Mission 199x


Eine Dekade in 30 Songs zu fassen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. 30 Alben wären bereits deutlich zu wenig, um der Aufgabe auch nur ansatzweise gerecht zu werden. Da wir aber an unseren Aufgaben wachsen, hier im Folgenden nun 30 Songs, 3 pro Jahr, die mir seit Langem sehr wichtig sind – innerhalb des Jahrgangs alphabetisch sortiert, ich will diese 30 Titel nicht auch noch in ein Ranking bringen. In den Neunzigern fing ich an, Musik für mich zu entdecken, habe mich in den Klang von elektrischen Gitarren verliebt, habe angefangen, diverse Stilrichtungen zu entdecken, habe angefangen, meinen ganz persönlichen Geschmack zu entwickeln.

1990.1 – Böhse Onkelz – Nekrophil

Dass meine Liste ausgerechnet mit dieser Band beginnt, liegt schlicht und einfach daran, dass für mich die Neunziger ohne diese Band nicht denkbar gewesen wären. Von allen Alben der Band ist die „Es ist soweit...“ wohl diejenige, die dem Heavy Metal am nächsten kommt. Zum Song: das gelungene Introriff, der unendliche fiese, dreckige Gesang, dazu die morbide Thematik, all das hat auf mich in den Neunzigern äußerst faszinierend und fesselnd gewirkt. Ohne die Frankfurter wäre ich nie beim Heavy Metal gelandet.

1990.2 – Gamma Ray – Heading For Tomorrow

Egal, wie sehr sie sich auf den letzten Alben bei sich selbst bedienen, egal, dass seit Langem kreative Stagnation angesagt ist: in den vermeintlich metalschwachen 90ern (was für ein Blödsinn!) waren die Jungs eine der führenden deutschen Formationen – zu Recht. Hansen hat mit seinem ersten Album nach dem Helloween-Ausstieg an das Niveau der beiden Keeper-Scheiben mindestens anknüpfen können, und mit dem damaligen Sänger Ralf Scheepers zum zweiten mal nach Kiske einen gnadenlosen Volltreffer gelandet. Der Titelsong des ersten Albums ist nicht weniger als der perfekteste Melodic-Metal-Longtrack aller Zeiten, zu jeder Minute spannend und nie langweilig werdend. Besser kann man diese Art Musik nicht spielen.

1990.3 – Judas Priest – Painkiller

Keine Liste von mir ohne einen Titel der größten und mächtigsten Band aller Zeiten. Über den Song und das Album muss man – denke ich – keine Worte mehr verlieren. Painkiller war stilprägend, ein unerwartet harter Befreiungsschlag, und Halford liefert eine unmenschliche Gesangsleistung ab. Nebenbei natürlich das geilste Drumintro aller Zeiten.

1991.1 – Cirith Ungol – Fallen Idols

Vier perfekte Alben in 10 Jahren, dann Schluss, aus und vorbei. Eine der eigenständigsten Bands aller Zeiten, gesegnet mit einem Frontmann, der direkt aus der Hölle kommen musste. Ich verstehe bis heute nicht, weshalb das letzte Album aus dem Jahr 1991 häufig als den Vorgängern nicht ebenbürtig empfunden wird. Die Band hat es geschafft, in ihren ureigenen Sound noch eine ungeheuerliche Eingängigkeit mit einzubringen, und hat schlichtweg ein paar verdammt starke Hits geschrieben – wie das getragene Fallen Idols mit seinem großartigen Hauptriff und dem Megarefrain – grandioser Schwanengesang.

1991.2 – Iced Earth – Pure Evil

Jon Schaffer hat es auf den ersten drei Studoalben geschafft, gnadenloses Riffgeschiebe und extrem variables Songwriting zu verzahnen, wie es höchstens noch Metallica auf ihren ersten drei Scheiben konnten – wobei Iced Earth ein Quäntchen düsterer, böser und härter waren. Dass Schaffer anschließend immer mehr zu simplen, kommerzielleren Songs überging, störte mich nicht, ich mag ausnahmslos alle Bandphasen. Dennoch ist das Stormrider-Album ein Meilenstein der frühen Neunziger. Pure Evil ist mein persönlicher Höhepunkt auf dem Album, variables Drumming, die wohl besten Rhythmusgitarren, die Schaffer jemals aufgenommen hat und tolle Screams im Refrain.

1991.3 – Savatage – Tonight He Grins Again

Bei allem Respekt für die starken 80er-Alben der Band, aber im hier besprochenen Jahrzehnt hat die Band meine beiden liebsten Alben ihrer Laufbahn veröffentlicht. Streets von 1991 ist eines der absolut besten Konzeptalben, die ich kenne. Kernige Riffs, tolle Soloarbeit, und über allem die einzigartige Stimme von Jon Oliva. Welchen Song man sich auch aussucht, das Album besteht nur aus Höhepunkten. Tonight He Grins Again ist die perfekte Kombination aus Bombastrock und irrsinnigem Gesang, großartig. Das andere Lieblingsalbum ist übrigens The Wake Of Magellan, aber davon hat es nichts auf die Liste geschafft.

1992.1 – Killers – The Beast Arises

Paul Di'Anno war mir von den drei Maidensängern immer am liebsten. Sein 92er Soloalbum liegt mir besonders am Herz. The Beast Arises - ich liebe diesen druckvollen, schmutzigen Gesang (ja, ich bin sehr Sängerfixiert), musikalisch schnörkellos und – erstaunlicherweise – priestlastig.

1992.2 – Manowar - Burning

Zu Hälfte neu besetzt und am stilistischen Scheideweg, trotzdem liefern Manowar einen der größten Songs des Jahres ab. Wenn nach der doomig daher galoppierenden ersten Strophe der mächtige Refrain einsetzt, und wenn Adams diesen noch mit seinen unglaublichen Schreien krönt, kann ich nicht anders, als mitzugehen.

1992.3 – W.A.S.P. - Chainsaw Charly (Murders In The Rue Morgue)

Akustisches Intro, dann flott die Kettensäge angeworfen, und los geht’s. Es ist klasse, wie wenig kopflastig dieses Konzeptalbum an sich und dieser Longtrack im speziellen ist. Blacky schafft es immer wieder, schmissige, glamrockige Melodien in den Raum zu werfen, für die andere Songwriter töten würden. Andere Bands basteln drei oder vier Refrains aus dem, was hier abgeliefert wird.

1993.1 – Meat Loaf – Everything Louder Than Everything Else

Überfrachtet mit Bombast, mehr Musical als Rocksong, kitschig theatralischer Gesang, glatter Sound. Ich weiß selbst, dass das weder Metal noch kerniger Rock ist. Es kommt auch nicht jeden Tag vor, dass ich Meat Loaf auflege, aber hey, wir reden von den Neunzigern, man erlaube mir eine kitschige Stelle :-). Positive Rock'nRoll-Vibes, instrumental toll inszeniert, ich mag das wirklich.

1993.2 – Rage – Firestorm

Zurück nach Deutschland, zurück zum schnörkellosen Metal. Vollgas, mit geilem Riff direkt in die Fresse, eingängiger Refrain, gesanglich charmant, aber nicht überragend. Firestorm ist für mich exemplarisch für das, was Rage in den frühen Neunzigern ausgemacht hat. Manni Schmidt kann man nicht genug loben, es gibt wenige Gitarristen, die dermaßen fit sind, aber immer dem Song dienlich bleiben. Riffen und Solieren kann der wie kaum ein zweiter in Deutschland.

1993.3 – Rush – Stick It Out

Kein Jahrzehnt ohne Rush. Der Weg zurück zu dominanteren Gitarren gefiel mir sehr. Man höre sich nur das Riff von Stick It Out an. Knackig, nicht im Geringsten angestaubt. Das Drumming sehr akzentuiert, der Refrain sehr eigenwillig. Rush schaffen es wie kaum jemand sonst, technisch brillant (was für eine Bassarbeit!) und komplex zu sein, ohne den Hörer auch nur eine Sekunde zu überfordern oder mit Fragezeichen vor den Augen zurückzulassen.

1994.1 – Dr. Butcher – The Altar

Schon wieder Jon Oliva? Mir doch egal! So hart wie Dr. Butcher waren Savatage nie, allein der völlige kranke Schrei ab Sekunde 50 stellt mir alle Haare auf. Kein Gedöns, kein Bombast, keine Orchestrierungen, nur mächtige Gitarren, eine pumpende Rhythmusgruppe, ganz dezente Keyboardflächen im Hintergrund, und die beste Performance von Oliva aller Zeiten.

1994.2 – Running Wild – The Privateer

Running Wild haben bei mir nicht den Stellenwerk inne, den beispielsweise Rage oder Grave Digger inne haben. Vielleicht, weil ich zu spät auf die Band aufmerksam wurde, und die Formkurve da bereits merklich nach unten zeigte. Aber ein Album – Black Hand Inn von 1994 – kommt immer wieder in den Player. Die Single Privateer vereint wirklich alles, was das Album so groß macht. Dauersperrfeuer des getriggerten Schlagzeugs, die schnellen Gitarrenläufe von Rolf, dezent folkloristisch klingende Gitarrenmelodien, ein großer Refrain. Toll.

1994.3 – Tiamat – A Pocket Sized Sun

Ex-Death-Metaller wirft alle harschen Töne über Bord und nimmt mit A Pocket Sized Sun einen der schönsten und berührendsten Song aller Zeiten auf. Klar inspiriert von Pink Floyd und den getragenen Momenten von King Crimson, aber weit weg davon, ein Rip-Off zu sein. Das ist eine Komposition für eine laue Sommernacht, wenn man Nachts um zwei nicht schlafen kann und alleine spazieren geht.

1995.1 – Blind Guardian – Imaginations From The Other Side

Der Song, der in knapp über sieben Minuten all das vereint, das die Band so groß gemacht hat: harte, gerne mal speedige Rhythmusgitarren, sehr variable Schlagzeugarbeit, sehr eigenständige Melodieführung, und natürlich Orchestrierungen und große, opulente Chöre. Damals noch sehr ausgewogen eingesetzt, ohne die Metalbasis der Songs zu verdrängen. Das war später bekanntlich anders (ich steh' auch auf die neueren Alben). Für mich ist IFTOS fast so etwas wie eine letzte Zusammenfassung der eigenen Trademarks, bevor sich die Band auf zu neuen Ufern machte.

1995.2 – Dream Theater – A Change Of Seasons

Befreit von dem Zwang, in den Kontext eines Albums passen zu müssen, ist A Change Of Seasons für mich nicht weniger, als der beste Longtrack dieser begnadeten Band. Irrsinnige Instrumentalabfahrten, enorm anspruchsvolle Rhythmusarbeit, gnadenlos komplexe Gitarrenparts, und trotzdem tauchen in den 23 Minuten immer wieder warme Gitarrensolos, Gesangslinien oder akustische Parts auf. Mir ist bewusst, dass man den Song – um ihn auch nur ansatzweise zu erfassen – 10, 15 oder 20 mal hören muss. Aber selten hat sich das so gelohnt wie hier.

1995.3 – Rammstein – Wollt Ihr Das Bett In Flammen Sehen

Weg von der Musikkunst, hin zu steriler, martialischer Konstruktion. Wir waren halbstarke Vierzehnjährige, als dieser Sound aufgeschlagen hat. Und was war hart, unglaublich hart. Man muss die Band nicht mögen, niemand kann aber abstreiten, dass dieser Sound im Mainstream Mitte der Neunziger etwas ganz neues war und die Band unzählige Massen an Nachahmern inspiriert hat. Auch heute, wenn ich diesen ganz eigenen, klinischen Gitarrensound höre, nimmt es mich noch mit.

1996.1 – Böhse Onkelz – Auf Gute Freunde

Ja, wer mir bis hierher gefolgt ist, wird womöglich die Augen verdrehen. Aber keine Sorge, die beiden anderen Songs des Jahres 1996 sind mindestens genau so plakativ ;-). Aber zurück zu „Auf Gute Freunde“. Ein schmeichelnder Rocker, Straßenkötergesang, gute Gitarren, reflektierender Text ohne Pathoskeule, besser kann man – Achtung, ducken – Deutschrock nicht machen.

1996.2 – Grave Digger – In The Dark Of The Sun

Keine Ahnung, warum diese Band so oft belächelt wird. Weil die Jungs einfach strukturierte Songs komplexen Kompositionen vorziehen? Weil Boltendahl alles andere als ein stimmlicher Schöngeist ist? Aber auf Accept steil gehen, hm? Grave Digger haben dermaßen viele Metalhymnen geschrieben, wie kaum eine andere Band. In The Dark Of The Sun lebt von einem einfachen Riff und einem großen Refrain. Manchmal reicht genau das aus.

1996.3 – Manowar – The Power

Das war nicht mehr die selbe Band, musikalisch hatte man sich von der ausladenden Epik der Ross-The-Boss-Phase verabschiedet, Logan spielte wesentlich reduzierter, ein Schlagzeuger durfte das Studio auch nicht betreten. Trotzdem liefert der Song das, was er verspricht – Kraft vom Fass. Faust hoch, Anlage laut, und dem überragenden Gesang von Eric Adams lauschen.

1997.1 – Jag Panzer – Black

Dunkler Beginn, dramatische Steigerung, grandioses Mainriff, voluminöser Weltklassegesang, garniert von wirklichen tollen Gitarrensoli. Was soll man mehr über einen der besten Jag Panzer-Songs aller Zeiten sagen?

1997.2 – Judas Priest – Cathedral Spires

Auch Judas Priest müssen eine zweite Nennung bekommen. Schließlich hatten bei den Birminghamern in diesem Jahrzeht die beiden besten Metalsänger aller Zeiten das Mikro in der Hand. Und die neue Härte im Gitarrenbereich tat der Band gut. Wenn nach zwei klaren, melodischen Minuten die Stimme erhoben wird und sich die Nummer mit einem Monsterriff hin zu einem der besten und epischsten Refrains der gesamten Bandgeschichte steigert, dann geht mir das Herz auf. Gnadenlos gut.

1997.3 – Stratovarius – Visions (Southern Cross)

Keine 90er-Show ohne Stratovarius. In meiner kleinen Welt war das damals die absolute Speerspitze des europäischen Metal. Instrumental wesentlich versierter als ähnlich gelagerte Bands wie Helloween oder Gamma Ray – alleine schon die Keys von Jens Johansson waren der Konkurrenz weit voraus. In dieser ausladenden 10 Minuten Nummer geht die Band keineswegs zu gemächlich oder übertrieben orchestral zu Werke (wie sie es beispielsweise auf den zu süßlichen Elements-Alben getan hat). Die ersten vier Minuten regiert die Doublebass, bevor ein akustisches Intermezzo Ruhe bringt, in ein tolles Solo überleitet, das wiederum den Weg für das von dezenten Chören unterstütze Finale ebnet.

1998.1 – Arena – The Hanging Tree

Düster und zu tiefst melancholisch, dabei äußerst zart. So beginnt der unstrittig beste Titel des gesamten Arena-Schaffens. Bereits die zerbrechliche Gesangszeile „Moving deeper into the land“ wird man seines Zeit seines Lebens nie mehr aus dem Gehirn bekommen. Als dann die Fragilität harscheren Tönen weicht – ohne das dunkle Element zu verlieren – zeigen Gesang und Sologitarre, wie emotional Musik sein kann. Wundervoll.

1998.2 – Ayreon – The Two Gates

Schon wieder ein Auszug aus einem Konzeptalbum. Warme, analoge Synthesizer zu Beginn, eine fette, groovende Hammondorgel mit einem rockigen, stampfigen Riff, gnadenlos gute Sänger mit genug Spielraum in der Komposition, um die jeweiligen Stärken zu zeigen. Gekrönt wird diese Nummer von einem richtig großen Refrain. Nichts wirkt hier kopflastig oder konstruiert, alles organisch.

1998.3 – Threshold - Angel

Threshold, das heißt bislang 10 Studioalben ohne Ausfall, das kann kaum jemand sonst vorweisen. Das Album „Clone“ aus dem Jahr 1998 war das erste mit dem leider viel zu früh verstorbenen Andrew McDermott. Meiner Meinung nach der Sänger, der mit seiner vollen, rauen Stimme am besten zur Band passte. „Angel“ hat alles, vom tollen Orgelintro über harte Riffs, beeindruckende Schlagzeugarbeit, einen harten Mittelpart und einen einfach nur schönen Refrain.

1999.1 – Dark At Dawn – Within The Light

In einer gerechten Welt wären Dark At Dawn groß geworden. Schnelle, leicht an Maiden erinnernde Gitarrenläufe, einzigartiger Reibeisengesang und ein Gespür für tolle Vocallines. „Within The Light“ ist ein knackiger, authentischer Underground-Metal-Song. Ohne jeden Schnörkel. Wer sowas nicht mag, muss ein böser Mensch sein :-).

1999.2 – Mercyful Fate – Church Of Saint Anne

Einer meiner liebsten M.F.-Songs. Über ein schleppendes Riff packt der Diamantenkönig seine eigenwilligen Gesangslinien und Harmoniegesänge. Der Song ist verschachtelt, ohne sperrig zu sein (ja, zugegebenermaßen immer noch easy listening im Vergleich zum Frühwerk), und der Refrain ist toll.

1999.3 – Misfits – The Forbidden Zone

Vom einen Extrem (Dream Theater mit 23 Minuten) zum Anderen. Die Misfits brauchen nur zwei Minuten und vierundzwanzig Sekunden, um mich zum rasen zu bringen. Punkige Gitarren, flottes Tempo, starke Vocals mit leichtem Rock'a'Billy-Touch, und Melodien, die sofort ins Ohre gehen. Ich habe das Album damals, 1999, rauf- und runtergehört, und stehe heute noch voll drauf.


Soviel zur unlösbaren Aufgabe, eine Dekade in 30 Songs zu fassen. So unlösbar die Aufgabe auch ist, mein Sonntag war ein sehr Gelungener.

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